Die Südtiroler Autorin Anne Marie Pircher debütierte 2000 mit dem Lyrikband „bloßfüßig. Texte und Illustrationen“ (Berenkamp, Innsbruck). In der Folge wandte sie sich dem Erzählen zu und veröffentlichte drei Erzählbände. „Kopfüber an einem Baum“, „Rosenquarz“ (Skarabaeus, Innsbruck) und „Zu den Linien“ (Edition Laurin). Nun erschien ihr zweiter Lyrikband „Über Erde“.  

Zwischen Lyrik und Prosa fließen die Texte Anne Marie Pirchers, und mithin ist es ein charakteristischer Zug ihres Schreibens, dass sie die Elemente der lyrischen Verdichtung mit jenen der erzählerischen Bewegung zu verbinden versteht. So finden sich in ihrem neuen Gedichtband vor allem erzählende Gedichte, die gleichermaßen auf verdichtete situative Momentaufnahmen hin fokussiert sind. Die Texte führen szenische Bilder vor Augen, in die der punktuelle Bezugspunkt eines lyrischen ICH, dessen Erleben, Erinnern und Empfinden wie Intarsien eingearbeitet sind. Die visuellen Elemente der Gedichte enthalten zumeist fotografisch festgehaltene Miniaturen. Dass Anne Marie Pircher eine nahe Beziehung zur Fotografie pflegt, zeigte sich bereits in ihrem ersten Gedichtband „bloßfüßig“. Darin begleiten die Texte ihre eigenen Schwarz-Weiß-Fotografien. Sehen und über das Gesehene hinaus Zusammenhänge herzustellen und  auszugestalten – darin darf ein Grundzug ihrer Texte ausgemacht werden, auch in ihrem neuen Gedichtband „Über Erde“. Darin heißt es beispielsweise im Gedicht „Fuge in Rot“:  „Auch in dieser Stadt suche ich die Bilder / den Klang der Farben abseits vom Wort“. 

Der neue Gedichtband ist in drei Teile gegliedert.

Der erste Teil trägt als Motto die Verszeile „so weit reicht der Atem“. In den Gedichten lassen sich die Spuren einer Art Reisebewegung nachziehen: „Wohin zu gehen ist“, fragt das erste Gedicht, und es ist Ausgangspunkt für ein Gehen an andere Orte, es eröffnet Horizonte von Reiseerfahrungen: in Andalusien, Kalabrien, im Osten, in Danzig, Mostar u.a., oder einfach nur in einem Garten und in der nahen Umgebung.

Den Gedichten zugrunde liegen – wie Anne Marie Pircher in einem Interview erklärt – Inspirationen, die auf ihre eigenen Reisen, auf die Begegnung mit fremden Landschaften und Lebensräumen zurückgehen. Auf diesen Reisen sind Notizen, Fragmente und Fotografien entstanden, die sie nun in ihren  Gedichten literarisch ausgeformt hat.       

Sinnlich und bildreich breiten die Texte kleine Panoramen des Lebens wie der Welterfahrung aus – Panoramen, aus denen Stimmungen herausklingen und die in ‚Gestimmtheiten‘ führen. Die Gedichte führen aber eigentlich zu poetischen Orten der Fremdheitserfahrung – der schmerzlichen, der heiter gelassenen, der zärtlich empfundenen  oder der geduldig nachgespürten –  immer aber der aufmerksam gehörten und wahrgenommenen Erfahrungen des Lebens.

Anne Marie Pircher sagt: „Mich interessiert, was Landschaften aus Menschen machen. Du fährst irgendwo anders hin und plötzlich kannst du jemand anderes sein.“ („Was treibt die Menschen an?“ Die Schriftstellerin Anne Marie Pircher im Gespräch mit Christine Kofler, VISSIDARTE 2015). 

Dieses Hineingehen in andere Wirklichkeiten, das ‚in-Beziehung-Treten‘ und sich fremden Erfahrungsräumen aussetzen sind Grundmotive ihres Schreibens.

Auch im zweiten Teil ihrer Gedichte ist das Grundmotiv die Erfahrung des Unbekannten, des Neuen vielleicht, dann – so der Titel dieses Teils – „wächst eine lila Blume in den Raum“  -  und es öffnet sich der Raum für das Unerwartete. 

Die Gedichte dieses Teils ziehen hinein in eine vibrierende Atmosphäre der  Lebendigkeit, der Bewegung – vor allem auch der Bewegung im Tanz. Dies ist eines der wiederkehrenden Motive, in dem sich eine Atmosphäre der Bewegtheit und der Erotik entfaltet. „Ohne Gewähr“ heißt beispielsweise ein Gedicht: „der Blick im Spiegel findet neue Wege“ (...) „hier gehört uns nichts, hinter Türen halten wir uns zitternd die Waage Wange an Wange.“     

Der dritte Teil trägt den Titel „Gras, das sich einer unsichtbaren Hand beugt“. Es ist gleichzeitig die Zeile des ersten Gedichts „Liebesspiele“, das die Verbundenheit der Dinge zueinander in einem wunderbaren Naturgedicht vor Augen führt. In diesem Teil sind Texte versammelt, in denen ein lyrisches ICH ein schreibendes ICH erkundet und dabei Topografien der Existenz – seiner eigenen Existenz – erinnernd verortet.

 

Den drei Teilen des Bandes ist das Gedicht „slow motion“ vorangestellt, in dem sich eine Art Leitbild des Schreibens von Anne Marie Pircher zu erkennen gibt, erzählt es doch von der Schildkröte, die alljährlich „in Zeitlupe aus dem Winterloch“ kriecht und die Winterstarre in der Frühlingssonne allmählich wieder verliert. Anne Marie Pircher sieht darin ein Sinnbild für ihre Kreativität und dies darf auch als Sinnbild gesehen werden für den notwendigen Wechsel der Tag-Nachtrhythmen des Lebens. 

 

Christine Riccabona, LiLit, 2017

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Schauen, leise: Über Erde - Kulturelemente, Oktober 2016 von Christine Kofler

 

„Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich.“ Dieses Zitat aus Marlen Haushofers „Die Wand“ steht dem neuen Lyrikband „Über Erde“ von Anne Marie Pircher voran. Der Roman aus dem Jahr 1963 beschreibt das Leben einer von der Zivilisation abgeschnittenen Frau – wahlweise als radikale Gesellschaftskritik und eine zwingend notwendigen Rückkehr zur Natur oder als Metapher für die Abgeschnittenheit und Einsamkeit des modernen Subjekts. Beide Motive, Natur und Fremdheit, dominieren auch die lyrischen Texte  im ersten Gedichtzyklus des neuen Bandes „Über Erde“ von Anne Marie Pircher. Die Sprachbilder aus der Natur nehmen dabei nicht die Funktion des Schönen und Edlen ein, sind auch nicht beängstigender Gegenpol, wie etwa bei Trakl. Sie dienen sie als Veranlassung, den Blick umzukehren und ihn auf sich selbst zur richten, frei nach Kleist: „Der erste Blick flog in die weite Natur, der zweite schlüpfte heimlich in unser innerstes Bewusstsein.“ So liest das lyrische Ich in „Andalusischer Reigen“ die „Zeichen der Agaven wie ein Gebet“ oder spiegelt sich in „Laheema“ im Nordmeer. Im nach dem estnischen Nationalpark betitelten Gedicht entwirft die Autorin eine atmosphärische Naturlandschaft voller Geheimnis. Das Äußere lenkt ins Innere, wenn es heißt:

„(…) so kam ich über Holzstege
durch die weiteste Weite
zu den Findlingen im Meer
sah mich im Spiegel einer Eiszeit
ungeboren über Jahrtausende (…)

Viele Gedichte im ersten Zyklus eröffnen stark und versetzen den Leser mit bildhaften Vergleichen, oft der Natur entlehnt, unmittelbar in eine Landschaft. So auch im Gedicht „Mostar“, das einen Aufenthalt in der gleichnamigen, im Bosnienkrieg der 1990er-Jahre entlang des Flusses Nevreta geteilten, Stadt beschreibt: „Wie weiße Bienenstöcke / klebten die Gräber an den Hängen“. Die poetische Vielschichtigkeit der autobiografischen Streifzüge durch die Welt entsteht aus der Erkenntnis, dass die Landschaft Teil des menschlichen Ausdrucks ist, die Landschaft den Menschen formt. Verknüpft wird dieses Prinzip, das sich einer simplen binären Gegenüberstellung von Natur und Kultur verweigert, mit Erinnerungen und der subjektiven Aussprache der Empfindungen des lyrischen Ichs. Verdichtung, Auslassung und Andeutung dominieren die Form. Die Rede, die abbricht, bringt oftmals gerade dasjenige zum Vorschein, das nicht explizit genannt wird. So in „Slackline“, wo das das übriggebliebene, verwaiste Balanciergerät im Garten zum Symbol für den Aufbruch der eigenen Kinder wird. Gedichte wie „Netzhaut“, „Selbstauslöser“ oder „Ein Wahn vielleicht ein Schmerz“ machen die Wahrnehmung selbst zum Thema. In „Netzhaut“ klingt das Motiv der digitalen Repräsentation an  („Gefangen in verlinkten / Fenstern, lustlose Gegenwehr /die sich anschickt / einen Raum nach dem anderen / zu verlassen“) und setzt diese in Kontrast zur Natur. Nicht virtuell, sondern körperlich sind hingegen die Folgen des Reisens und so wird die Borreliose zur „Wanderröte“, die sich einschreibt in das „Gesamtkonzept“.

Steht in „Soweit reicht der Atem“ Aufbruch und Abschied, Landschaft und Fremde im Mittelpunkt, sind der Tanz, die Begegnung und der Traum vorherrschende Bildbereiche des zweiten Gedichtzyklus „Wächst eine lila Blume in den Raum.“ Da wirbelt ein argentinischer Tänzer durch Kaltern, fährt eine Bandolera Richtung Süden, lockt eine Braut. Da lädt das Wintergrau ein, Zaubergärten zu betreten und ein sonores „Signorina!“ zum Rätselraten mit einem älteren Herrn. Zu Neujahr wird das Grandhotel zur „Schneemilonga“, einem Tanzlokal, an dem „taktvoll“ Füße „Musik in allen Fingerspitzen“ suchen und Zeilen wie diese einen magischen Moment entwerfen:

„Diese Nacht lässt Wunden frei
auch der Himmel tanzt
sich endlich aus
im tausendfachen Kleid“

Wenn es in der milonga sentimental, der fröhlichen Schwester des Tangos heißt, „Yo canto por no llorar“ – „Ich singe, um nicht zu weinen“  – könnte dies auch der Leitgedanke dieses zweiten Gedichtzyklus sein.

Innen, außen und dazwischen

Immer ist es das Unbemerkte und kaum Wahrnehmbare, das die Autorin mit ihrer präzisen und suggestiven Sprache in den Fokus nimmt. Vorweggenommen wird dieses Prinzip im Gedicht „Slow Motion“, das dem Band voransteht. Das lyrische Ich begegnet dem Frühling mit der Erwartung des Neuanfangs, flüstert „Hoffnung ins alte Herbstlaub“. Doch die griechische Landschildkröte stirbt, liegt „kalt in der Rüstung, starr unterm nackten Feigenbaum“. Diese leisen Vorgänge der Natur sind auch im dritten Zyklus zentral, etwa in „Liebesspiele“ oder „Flüchtiges Muttertier I“. Das Außen ist auch hier Anlass, durch innere Räume zu schreiten. Überhaupt wird der Raum selbst oft zum zentralen Motiv – der Schreib-Raum und der Erinnerungs-Raum, etwa wenn es heißt „Im wandernden Licht des Tages / zähle ich Jahre rückwärts / an deiner Seite“ („Rückblende“) oder „ (…) sommers wie winters / kehr ich über die Haide zurück / blase Wind in die Segel / vergangener Zeiten“ („Bel ami“).
Auch in  „So wird es Abend“, „Der Duft des Kalikanthus“ und „Wandlerin“ weht das Flüchtige der menschlichen Existenz durch die Zeilen.

Schlusslicht bildet der Text „Sag“, der wiederum in Bezug auf Marlen Haushofers „Die Wand“ gelesen werden kann und so gemeinsam mit dem voranstehenden Zitat die Klammer des Gedichtbandes bildet. Das Abgeschnittensein, die Isolation, die Etablierung einer anderen Weiblichkeit, allesamt zentrale Themen in „Die Wand“, sind auch in „Sag“ präsent: „Wer wird mich anziehen / mir die neueste Mode verkaufen / mich verkleiden für die Welt / wenn ich alle Türen / nach außen versperre / Fensterläden schließe / mein Lächeln nach innen drehe (…)“. Einmal heißt es in „Die Wand“: „Einer, der rennt, kann nicht schauen.“ Wer „Über Erde“ liest, möchte stehenbleiben, um zu schauen, ganz leise, von draußen nach drinnen und dazwischen.

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Was über der Erde ist? Neue Gedichte von Anne Marie Pircher

Ferruccio Delle Cave, Dolomiten, November 2016

 

Drei Gedichtzyklen machen den neuen, schmalen Band von Gedichten aus der Feder Anne Marie Pirchers aus. „Über Erde" ist in der Innsbrucker laurin-edition erschienen und versammelt Poesie aus mehreren Jahren, in denen die Autorin zugleich auch Prosa verfasst hat "Erst später, am Abend, erzähltest du / während ich noch immer im Dunkeln / saß: lichtscheu und den Kopf voller Sterne brachtest du mir die Sonne zum Vorschein". In "Sonnenfinsternis“ wird die Lebensbahn kurz und prägnant umrissen, um dann ein Resümee zu ziehen, das so lautet: "nichts wissen wie genau, immer bleibt ein Rest von Zweifel..," und dies alles vor dem Hintergrund des Bildes einer Sonnenfinsternis. Gedichte. die einladen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und gleichsam auch in ihren Bann ziehen. Gedichte, die aber auch menschliches Kommunikationsfeld betreten, um sie genau zu analysieren und dort zu orten, wo man sie am wenigsten vermuten würde, wie etwa in dem zweiten Zyklus unter dem Titel "Wächst eine lila Blume in den Raum". Gedichte, die Geschichte in den Diskurs des Heute mit einbezieht wie in „Mostar“ oder „Flucht in die Lagune. Momentaufnahmen unseres kulturellen und historischen Bewusstseins, die ganz unvermittelt einhergehen, als wollten sie uns nicht überfrachten und belasten. Alles von zarten Metaphern umgarnt, die einen berücken, sodass die Lesart fast darunter zu leiden droht Die Sprache der poetischen Texte ist dagegen sehr genau überlegt: Sicher gesetzte Bilder, die nie lügen oder trügen, eine gut überlegte Semantik, auch dort wo sie auseinanderzubrechen droht, immer einen Tick dem Bruch der Sprache mit der Wirklichkeit voraus.