Sprache malt ein Bild von der Welt. Ein Bild, das sich von der Welt insofern unterscheidet, als es eben ein Bild von der Welt ist und nicht die Welt selbst. Nicht einmal das, was wir sehen, ist die Welt, ist mehr ein Wissen von der Welt, als ein Wahrnehmen, ein Wissen, das – so Erika Burkart in jenem Zitat, das Anne Marie Pirchers Erzählband „Zu den Linien“ einleitet – zu spät kommt, dem Sehen hinterher.

Anne Marie Pircher erzählt, was sie sieht, erzählt, was sie weiß, erzählt, was gewesen ist und was sein könnte. Dabei beobachtet sie voller Hingabe und Sorgfalt die Menschen, die sich nur unzureichend in ihrer Welt zurechtfinden, deren Leben und Erleben ihre Gegenwart zu einer Herausforderung, zu einer großen Aufgabe werden lässt, die darin besteht, den Zeichen der Sprache, den Zeichen der Welt eine Bedeutung zu geben.

Die einleitende und titelgebende Erzählung „Zu den Linien“ ist daher mehr als eine erotische Phantasie der Ich-Erzählerin während einer U-Bahn-Fahrt. Sie betrachtet einen blinden Mann, der mit seinem weißen Stock ihre Aufmerksamkeit geweckt hat, betrachtet ihn auf eine Art und Weise, wie es umgekehrt blinde Menschen tun, wenn sie ihr Gegenüber erkennen möchten. Sie ertastet ihn mit ihren Augen, die sie mit einer Sonnenbrille vor den Augen anderer Menschen schützt, lässt ihren Blick an ihm entlanggleiten. Präzise folgt sie den Konturen seines Körpers, möchte sein Gesicht sehen, saugt seinen Geruch in sich auf. Nichts darf sie stören, nicht die anderen Fahrgäste, nicht die Halte an den Stationen, nichts. Pircher lässt ihre Protagonistin vom Karlsplatz nach Hütteldorf fahren, wählt jenes Streckenstück der U4, das nicht nur unterirdisch verläuft, nicht nur in Tunneln, im Dunkeln, sondern auch am Tage. „Aber da ist nichts als Licht.“ (S. 21) Als ob dieses Licht notwendig wäre, einen Menschen zu erkennen.

In ähnlicher Weise verwebt Pircher die Landschaft, die Umgebung mit der inneren Landschaft ihrer Figuren. In der Erzählung „Still leben“, in der eine betrogene Ehefrau sich zum Sterben in ein Wellnesshotel zurückzieht, lässt sie beides kontrastreich aufeinander prallen. „Still leben“ – so auch das Motto des Hotels - möchte auch Frau Dander. Die Auszeit, die sie sucht, ist jedoch eine ewige. Auch hier steht die Umgebung, die betuliche Stille des Hotels, seine diskrete Noblesse in engem Zusammenhang mit den inneren Vorgängen der die Herberge bevölkernden Gäste. Das Geordnete, Gesammelte, Geebnete ist das Gegenteil zur Aufgewühltheit der kurz vor dem Tod Stehenden. „Coming home, flüstert sie und lacht kurz, aber heftig.“ (S. 33)

Gegenstände wie Haarspangen, Puppen, Vogelscheuchen, werden zu Augen, an denen sich die Welt ablesen lässt, die Wünsche und Sehnsüchte aussprechen, noch bevor sie erkannt werden. Eine Vogelscheuche wird zum Sinnbild von Einsamkeit („Von Vogelscheuchen und anderen Gespenstern“), die Verzweiflung einer missbrauchten Frau manifestiert sich in dem unbedingten Wunsch, eine bestimmte Haarspange zu besitzen („Schwarz und weiß“), ein Kind vermeint mit der „bambola“, einer italienischen Puppe, die ganze Herrlichkeit der Welt in Händen zu halten, vor allem aber scheint diese Puppe ein Weg zum Verständnis einer unverständlichen Sprache zu sein. Es wünscht sich die Puppe so sehr und bekommt sie dennoch nicht.

Wesentliches Moment in Pirchers Erzählungen ist jedoch die Auseinandersetzung mit Orten, Landschaften, Heimaten. Sie werden in ihren Erzählungen zu Dialogpartnern, zu Sehnsuchtsorten, an denen die Figuren Zuflucht suchen. „Lautlos schreiten wir durch den Raum wie Gefangene ein- und derselben Geschichte, deren Gespenster sich aber jedem von uns anders zeigen.“ (S. 49) Meran, die „heimliche Geliebte“, ist Ausgangspunkt einer poetischen Liebeserklärung: „Wir schlichen durch deine Kanäle und Abwassergräben, bis wir müde waren, uns hinlegten und uns unsere Wunden zeigten. Dann liebte ich deinen noch schönen Körper und schlief in deinem Arm, bedeckt vom langen, schwarzen Haar der Nacht.“ (S. 132)

Ist die erste Erzählung die titelgebende von Anne Marie Pirchers Erzählband, so ist die letzte Erzählung der Schlüsseltext des Bandes. „Zum Süden hin“ bringt die Erzählerin jener Fluss, an dessen Ufer sie ihre Gedanken ihren Schritten zuvorkommen lässt. „Immer wenn ich an der Brücke stehe, könnte ich mich entscheiden. Flussaufwärts oder flussabwärts. Aber auch heute wähle ich den Weg, der in den Süden führt.“ (S. 137)

Dennoch bleibt immer der Zweifel, ob dieser Weg nicht nur ein vermeintlich freier ist, ein Weg in eine unbestimmte Freiheit, oder ob dieser Weg doch ins Endlose geht, in die Ewigkeit, entlang jener Gleise, die die U-Bahn fährt, entlang jener vorgezeichneten Wege, die wir nicht mehr verlassen können ohne uns selbst auszulöschen.


Eva Maria Stöckler, Literaturhaus Wien

16 Oktober 2014


Zwischenleben


Leise erzählt, sorgfältig gearbeitet. Der neue Erzählband von Anne Marie Pircher lebt von den kleinen Dingen.


Kleine Ereignisse, die große Folgen zeitigen: Anne Marie Pircher erzählt in ihrem neuen Buch von Menschen, die nie ankommen.


Die Erzählungen von Anne Marie Pircher sind leise, sie leben von den kleinen Dingen, sie entwickeln sich etwa aus einer zufälligen Berührung wie in der ersten Erzählung ihres neuen Erzählbandes „Zu den Linien“. In diesem Band hat Pircher  9 Erzählungen versammelt, die sich durch Knappheit und Sorgfalt auszeichnen.

„Es trifft mich an meinem linken Bein“ lautet der erste Satz der Erzählung, die den Band einleitet und ihm den Titel gibt. Der Blick der Ich-Erzählerin richtet sich in der U-Bahn auf einen Mann, sie folgt mit den Augen und dem Schreiben seinem Körper und seinen Bewegungen. Bis der Mann verschwunden ist und nichts mehr da ist als Licht. Ein Tagtraum.


Tagträumerisch sind die meisten Figuren in Anne Marie Pirchers Erzählungen, Menschen, die nie (bei sich) ankommen, im Dazwischen leben. „Ich habe mir seit jeher Lügen aufgebaut“, sagt die Ich-Erzählerin über sich selbst in der Erzählung „Von Vogelscheuchen und anderen Gespenstern“. Doppelwelten beschreibt die Autorin, besonders in der Erzählung „Schwarz und Weiß“, einer intensiven Beschreibung eines psychischen Ausnahmezustandes. Nuancen sind die Stärke des Schreibens von Anne Marie Pircher, Farben, Details, Orte – sehr oft sind die Erzählungen geographisch genau verortet.

Es gibt viele Wendungen in diesem Buch, die glücken wie der Satz über Jakob, den Geliebten der Ich-Erzählerin: „Er wird nie nur mir gehören, deshalb vertraue ich ihm.“ Es gibt die eine oder andere Wendung, die schief in dieser gut gebauten Sprachlandschaft steht wie die „utopischen Trägerhemdchen“.

Es ist ein verhaltenes Schreiben, das einen Ton hat, aber eben immer den gleichen. In sich gekehrte, monotone Innenschau, ein Rhythmus, der keine großen Ausschläge kennt.


Georg Mair, FF, Oktober 2014