Rezension: Christine Riccabona, Literaturhaus am Inn, Innsbruck 2003

 

Es war bisher wenig von der 1964 geborenen Südtiroler Autorin Anne Marie Pircher zu hören, die in Kuens bei Meran lebt und schreibt. Vor drei Jahren veröffentlichte sie den Lyrikband „bloßfüßig“, letztes Jahr nahm sie am Literaturwettbewerb „Floriana“ in Oberösterreich teil. Ihr nun bei Skarabaeus erschienenes Prosa-Debüt „Kopfüber an einem Baum“ ist allerdings bemerkenswert.

 

„Das fünfte Element“ heißt eine der vierzehn Erzählungen, die in diesem Band versammelt sind. Es ist eine Erzählung über jene Kraft, die sich nicht fangen lässt wie die fassbaren Elemente des Wirklichen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Das fünfte Element ist das der Verwandlung, des Schöpferischen und Unberechenbaren, in ihm wirkt Eros. Es ist eine Geschichte der Begegnung mit diesem Element. „Dass es einen Raum gibt, wo sich alle vier Elemente treffen, um ein fünftes Element zu zeugen, hat mein Kopf nicht programmiert. Er hält Widerstand wie immer.“ (S. 121) Widerstand gegen das Irritierende, das Visionäre, auch gegen schmerzhaftes Erkennen. Dass das fünfte Element auch Motor des Erzählens ist, steht zwar nicht in der Geschichte, aber es trifft den Fokus dieser Prosa, des Erzählens überhaupt, nämlich dass darin ein immer neues Öffnen von Wirklichkeiten geschieht. Dass Literatur in der Gegensphäre zur Welt der Fakten und Tatsachen zu Hause sei, sagte schon einst Reinhard Baumgart: „Sie handelt vom Unverhofften, sie sucht das Abenteuer, und sei es nur das einer unverhofften Metapher, den ungewohnten Blick auf die Realität“. Literatur ist zu Hause an der Schwelle zu den Räumen des Imaginären, auch des Surrealen und der Träume. Das ist nichts Neues, aber wenn Literatur von dort her kommt, überrascht sie immer wieder neu. Die von formalen Erzählstrategien her ganz und gar unauffälligen Texte des Bandes überraschen – nicht nur in diesem Sinn. Mit treffsicherer Sprache führt die Erzählerin die Leser über den doppelbödigen Grund der Geschehnisse hinweg, in Situationen, die nicht selten in die surreale Tagtraumwelt kippen und Unvorhergesehenes nach sich ziehen. Die vierzehn Geschichten handeln von Kindheitsorten, von unerwarteten Wiederbegegnungen, von der Scheinwelt der Erfolgsgesellschaft, von Schattenträumen und Ängsten, von den Falltüren des Alltags ins Unheimliche, in die Räume hinter der routinierten Wahrnehmung der Realität. Nicht die Verfremdung des Gewohnten, sondern eigentlich das Umgekehrte geschieht: Das Außergewöhnliche wird erzählt, - schlicht, unbewegt, klar – als wäre es stets in allem präsent. Darin sind sie der Tradition des magischen Realismus verwandt. In der ersten Erzählung – eine Kindheitserinnerung „Zwischen den Dörfern“, taucht eine Wölfin auf, die zur Metapher für Heimatverbundenheit wird. „Wenn ich heute vom Dorf hinüber schaue auf die andere Talseite (…) ist mir nicht ganz klar, warum ich den Weg in den Süden später niemals gefunden habe. Ich kann es mir nur dadurch erklären, dass meine Liebe zur Wölfin stärker gewesen sein muss als meine Liebe zum Süden.“ (S. 6) In der Geschichte „Schattenlauf“ wird im symbolhaften Ort der Handlung – einem „Turm“ – unschwer die Tourismuswelt erkennbar. Aber es geht gar nicht um diese Welt des „Turms“, der ganz oben eine „Plattform unterm Himmel“ hat, den die Turmbesucher in Scharen aufsuchen und bei ihrem Kommen und Gehen Dreck hinterlassen. Es geht vielmehr darum, wie die Hauptfigur – die Turmbewohnerin -, die in einer Mauernische haust und den Unrat der Besucher aufzuräumen hat, einen Ausstieg aus diesem verliesartig geschilderten Turm findet, und zwar nicht jenen Ausgang „der weiten Entfernungen, aus denen die Turmbesucher kamen“, sondern jenen, der über die Treppen durch das Innere des Turms nach unten führt. „Ich weiß nicht, wie viele Stufen ich schon hinter mir habe. Es ist nicht ganz einfach, diese sich windende Treppe zu meistern. Aber ich habe keine Wahl mehr, ich bin schon längst über die Mitte dieses dunklen tiefen Turms gelaufen“ (S. 18). Dass der Schatten unzähliger gehorteter Geschichten die Turmbewohnerin auf ihrem Abstieg durch das Innere des Turms verfolgt, sie weitertreibt, bis sie durch die Öffnung unten entkommen kann, ist nur eine der vielen symbolischen Elemente, die diesen Erzählungen eingelagert sind und über die Grenzen des Erzählten hinausweisen.

 

Anne Marie Pirchers Geschichten sind voll hintergründigem Humor und stiller Traurigkeit, voll „Melancholie und Leidenschaft“, wie es der Verlag nennt. Was beim Lesen aber besonders auffällt, ist das starke sichere Ich, das in ihnen erzählt, das die Zügel der Geschichten in den Händen hält, konzentrierte Bilder entstehen lässt und weiß, wo es zu benennen und auszusprechen gilt und wo nur anzudeuten mehr ist. In manchen Geschichten heißt dieses Ich Anna und man ist geneigt, in allen Texten Anna zu suchen und in ihr alle Fäden der Geschichten zusammenlaufen zu lassen. Die Sicht der Ich-Erzählerin ist den einzelnen Texten als zentralperspektivische Linie eingeschrieben, die dem Erzählband insgesamt etwas Kohärentes gibt, das sich auch in der Sprache zeigt. Es kann keine Rede von mehrperspektivischem Erzählen, von postmodernen Verfahren der Auffächerung zentraler Erzähleinheiten der Handlung und des Subjekts sein, so gesehen mutet den Erzählungen etwas Althergebrachtes an. Dennoch: der Titel nennt eine ungewöhnliche Haltung – übertragen auf die poetologische Optik ist sie gänzlich unkonventionell: Alma, das Kind in der vierten Erzählung „Der Gorilla“, das in der Vaterwelt nicht so recht zu Hause ist, „gräbt gerne Schildkröten aus der Erde oder hängt sich kopfüber an einen Baum, um dort stundenlang zu verharren (S. 38), - diese auf den Kopf gestellt Perspektive ist es, die andere Ordnungen hervorbringt, die den Dingen eine subtile Drehung und den Erzählungen ihre Eindringlichkeit gibt. Mit dem allegorischen Kunstgriff gelingt es der Autorin, über den Tellerrand einer realistischen Erzählweise zu springen und so die vielen Ebenen des Einen, das Widersprüchliche, Vieldeutige und vor allem die innere Realität quasi als Subtext mitzuerzählen. In jener Erzählung beispielsweise, in der die Icherzählerin das Kind Alma in der Großstadt nach einem gemeinsamen Zoobesuch verliert, ist das Spiel zwischen Phantasie und Realität bewusst kalkuliert, denn es geht darin um „nackte Angst“ als innere Realität von Bedrohung. Ein Gorilla im Zoo wird zur allegorischen Metapher und die Ereignisse, die sich daran knüpfen, machen das Gefühl existentieller Bedrohung – die als reales Geschehen nicht nur sprachlich schwer vermittelbar ist – sichtbar.

Symbolhafte Handlungen und allegorisches Erzählen – darin reicht die Autorin dem erzählerischen Erbe Franz Kafkas die Hand, der schon sagte: „Der Traum enthüllt die Wirklichkeit, hinter der die Vorstellung zurückbleibt.“.