Textprobe Kopfüber an einem Baum

… Der Zug rast Richtung Norden, ohne irgendwo anzuhalten. Ich kann nicht schlafen, wenn ich an den Gorilla denke. Wer weiß, ob Alma nicht zum Zoo hinaufsteigt, um mich zu suchen. Es ist dunkel jetzt, stockfinstere Nacht draußen. Modena haben wir schon hinter uns gelassen. Aus der Hand habe ich sie gegeben. Für einen kurzen Augenblick. Ich muss mit dem Lokführer sprechen. Er muss anhalten, in Verona muss er mich aussteigen lassen. Ich renne nach vorne, vorbei an schlafenden Gesichtern, die sich verstecken in irgendwelchen Träumen. Vorbei an der Notbremse, die ich scheue. Es muss doch einen Verantwortlichen geben in diesem Zug. Einen einzigen, mit dem man reden kann. Es muss nicht meine Muttersprache sein. Ich spreche auch Italienisch oder Englisch. Mitunter ein wenig Französisch. Je parle francais … aussi. Ich habe nichts gegen die Franzosen. Auch Russisch würde ich sprechen, wenn ich es je gelernt hätte. Alle Sprachen der Welt, nur um meine Tochter wiederzubekommen.
Alma hat kluge Augen. Solche Kinder darf man nicht im Stich lassen. Man muss sie suchen und darf nicht darauf warten, dass sie schon irgendwie zurechtkommen in der Nähe eines Gorillas. Wer weiß, vielleicht hat er nachts Ausgang, der Gorilla, und darf sich frei bewegen. Vielleicht hat er sie schon getroffen im nächtlichen Park der Villa Borghese. Auf ihrer Suche nach Schildkröten unter der Erde erwischt er sie womöglich, rücklings, ohne Vorwarnung. Er würde seine schwarzen Tatzen um ihre Hüften legen, sie hochheben und zu sich drehen, um ihre klugen Augen anzugrinsen. Sie würde ihre Schildkröten fallen lassen, im Schreck, und ihn anlächeln, weil sie weiß, dass sie es ihm schuldig ist. Ihr fehlender Applaus für seine Show im Gehege würde ihr jetzt zum Verhängnis werden. Und ich, ihre Mutter, würde nicht da sein, um sie an der Hand zu halten. Sie würde nicht weinen. Alma ist ein starkes Mädchen, aber sie hätte schreckliche Angst und würde dem Gorilla den Applaus geben, den er nötig hat. Sie würde alles tun, um seinen Zorn im Zaum zu halten. Würde sich von ihm in sein Gehege tragen lassen und sich ganz ruhig verhalten. Ich kenne Alma, sie ist eines von jenen Kindern, die sich an Situationen anpassen können wie ein Chamäleon an seine Umgebung. Sie würde nicht schreien, nicht versuchen wegzulaufen. Nein, nichts dergleichen würde sie unternehmen, denn sie ist ein kluges Mädchen. Sie weiß schon, wie man mit Gorillas umgehen muss, um ihr Freund zu werden. Und es würde ihr sogar gelingen. Er würde seine Zähne fletschen und ihr großer heimtückischer Freund werden. Er würde ihr scheinheilig zu essen geben, von seinen Bananen und Äpfeln. Würde ihr sogar den Hintern putzen und sie in seinen Armen in den Schlaf wiegen. Dann aber, wenn ihre wachen Augen zufielen, würde er zuschlagen. Würde mit seinen Pranken so lange auf ihren Kopf schlagen, bis sie bewusstlos wäre und sich an nichts erinnern könnte. Er würde ihren Kopf zumachen mit Heu und Stroh aus seinem Gehege, damit ihre Augen, falls sie sich doch noch öffneten, nichts sehen könnten. Denn im Grunde hätte der Gorilla in seiner ganzen Größe Angst vor ihren Augen. Diese müssten verwischt werden, mit Heu und Stroh, um keine Wahrheit durchzulassen. Denn der Gorilla dort im Zoo in Rom ist ein wahrheitsscheues Tier. Er ist es gewohnt, seine Show abzuziehen, für die er Applaus erhält. Dass seine Wahrheit im Urwald liegt, weiß er nicht. Das hat ihm nie jemand gesagt… (aus: Der Gorilla)