Dale ist da. Er ist immer da, wenn ich abends nach Hause komme. Er fragt jedes Mal, ob ich Hunger habe und wie es Berhane und den anderen geht. Er ist müde von der Arbeit und den Kindern. Auch von der Therapie, die er und Linda getrennt absolvieren. Manchmal spricht er mit mir über Linda. Immer hat er Verständnis für sie. 

– Vielleicht, sage ich, hat sie dich gar nicht verdient.

Solche Sätze tun ihm gut. Ich sage sie nur, weil ich weiß, dass er niemals eine Grenze überschreiten würde. Nie würde er bei mir billigen Trost suchen. 

Nachdem die Musik läuft und alles seine Ordnung gefunden hat, das heißt die Kinder im Bett sind und Linda auf dem Weg zu Giulio, setze ich mich zu ihm. Heute brennt die erste Kerze am Leuchter. Dale hat ihn an die große Glasfront neben dem Eingang gestellt. Es ist der 15. Dezember, in diesem Jahr der Beginn des jüdischen Lichterfestes. Das erste religiöse Ritual, das ich in diesem Haus kennenlerne. 

– Wir sind keine praktizierenden Juden, wiederholt sich Dale, aber das Chanukkafest hat sich irgendwie bei uns eingeschlichen. Ich finde die Steigerung von Licht an jedem Abend, gerade jetzt, wo die Sonne früh verschwindet, schön. Irgendwie beruhigend.

– Wir haben um diese Zeit den Adventskranz mit seinen vier Kerzen.

– Ja, und im Grunde kommt alles aus derselben Tradition. Wir feiern Weihnachten auch. Obwohl, dieses Jahr ... wird es kompliziert. 

Er reibt an seinem Bart und wirkt ratlos. Ich würde ihn am liebsten fragen, warum er sich nicht wehrt. Warum er alles so hinnimmt. Aber ich denke, dass ich kein Recht dazu habe. 

– Die Kinder mögen dich, sagt Dale, vor allem Gabriel, und das will was heißen. Er ist zu reif für sein Alter, zu intelligent auf eine Art, die ihm nicht gut tut. Ich frage mich oft, wann er sein Kindsein aufgegeben hat. Ich hab’s nicht bemerkt. Er war wohl immer schon so, aber Linda und ich waren nicht imstande, seine Energie richtig zu lenken. Sport tut ihm auf jeden Fall gut. Ich bin dir dankbar, dass du ihn zu seinen Baseballspielen begleitest. Es ist wichtig für ihn. 

Dale macht eine Pause und atmet tief durch. Sein Blick bleibt am Leuchter hängen, bis er sich einen Ruck gibt. 

– Ich rede meistens über mich oder die Kinder. Erzähl mir von dir. Was interessiert dich, Maria, was wirst du tun nach deinem Amerika-Abenteuer? Ich hoffe natürlich, du bleibst noch lange bei uns. Wir alle haben uns so an dich gewöhnt. An deine feine Art, mit uns umzugehen. Du musst eine wunderbare Familie haben, erzähl mir etwas, wir wissen so wenig von dir ...

Ich erzähle mit ausweichendem Blick wieder das gleiche. Nämlich vom Geschäft meiner Eltern. Vom Dorf, das von Touristen heimgesucht wird. Von meiner Schwester Sigrid, die in einer Stadt in Oberitalien Jura studiert. Ich erzähle auch wieder von Toni, meinem kleinen Bruder, der gar nicht mehr klein ist und Klavier spielt. Am liebsten Beethovens Für Elise. Aber das alles weiß Dale ja schon. Von mir selbst weiß ich wenig zu berichten. Denn ich bin ein übervolles Blatt, das besser nicht berührt wird. Für meine Zukunft habe ich nur ein Achselzucken. 

Dales Blick lässt mich in Ruhe. Später wünscht er mir eine gute Nacht. Und ob ich Lust hätte, mit ihm und den Kindern einmal in den Yosemite-Nationalpark zu fahren. Oder nach Mammoth Mountain zum Skifahren oder Snowboarden.

 

Kuno würde sagen: Ich sehe doch, wie es dahinter arbeitet. Hinter deiner Stirn.

 

Wo immer ich bin, ist eine Grenze. Mein Leben ist eine einzige Grenze. Die Mauern sind weiß. In den Balkontüren kratze ich den Kitt aus den Fugen. Wenn es sein muss, auch mit einem Messer. Draußen werfen die anderen kleine Steinchen an die Glasscheibe. Sie kommen mit dem Fahrrad. Sie kommen immer wieder, obwohl ich nicht ans Fenster trete und mich nie bemerkbar mache. Sie wissen einfach, dass ich hier drin bin. Sie lachen über mich, das kann ich hören. Das Haus ist billig gebaut, man hört zu vieles. Ich lerne, meine Hände an die Ohren zu legen, zuerst leicht, dann immer fester mit gehörigem Druck. Wenn ich die Hände wieder wegnehme, sind auch die Stimmen fort. Ich drehe mich zur anderen Seite, dort sind drei Fenster, die zum Garten liegen. Ich knie mich auf die Bank und stütze meinen Kopf in die Hände. Die Trauerweide im Garten ist mein Ziel. Sie kann ich lange betrachten, ohne müde zu werden. Ausgerechnet meine Mutter hat sie gepflanzt. Sie, die Traurige, braucht zu ihrer Traurigkeit noch eine Trauerweide im Garten. Doppeltes Glück. Zehnfache, hundertfache Trauer in der Weide. Wenn ich die Vögel nicht hätte. Wenn die Zwiesprache mit den Vögeln ausbliebe, dann könnte ich mich schlafen legen. Für immer. Die Bank ist so aufgeteilt, dass ich dreimal die Aussicht wechseln kann. Immer in den Garten und immer ist da ein Teil der Trauerweide. Vom mittleren Fenster aus könnte ich nach ihr greifen, so nah, wenn ich es wagen würde, das Fenster zu öffnen. Auf dieser Bank hat Vater unserer Angela beim Fensterputzen irgendwohin gefasst. Ich stand in der Tür, bin leise wie immer gekommen. Sie haben mich nicht gesehen. So will ich auch einmal werden. So schön und gut wie Angela. Dann bin ich Vaters Glück. 

 

Als ich Lindas Schritte zuerst im Vorgarten und dann im Wohnzimmer höre, weiß ich, dass ich nichts zu befürchten habe. Es wird keine lauten Worte geben. Die Kinder schlafen unter diesem Dach trotz allem. Die Nacht bringt hier nichts zum Vorschein, was bei Tag unter den Teppich gekehrt wurde. Die Nacht ist für alle zum Schlafen da.

Am Morgen steht Linda wie immer in Slip und BH mit frisch gewaschenen, nassen Haaren in der Küche. Es ist ein Mittwoch und ein Tag wie jeder andere. Aber heute liegt ein federleichter Brief neben der Zeitung auf der Anrichte. Er ist an mich adressiert. Linda schiebt ihn mir zu und meint, das sei eine Seltenheit.

– Hoffentlich ist bei dir daheim alles in Ordnung?

Ich sehe sofort, dass es nicht Isabelles Handschrift ist. Auch nicht die von Kuno. Ich kenne Mutters Handschrift nur vage und Vater schreibt keine Briefe. An Sigrid und Toni ist nicht zu denken. Sie haben anderes zu tun. Die Schrift auf dem Kuvert wirkt bemüht und irgendwie starr. Ich zögere, aber dann muss ich unter Lindas Blick die Geste machen und lese auf der Rückseite den Namen meiner Mutter. Anna soundso. Mein Herz beginnt zu schlagen. Immer, wenn Mutter in meine Nähe rückt, bäumt sich eine Art Widerstand in mir auf, eine Reflexion zur Flucht. Als müsste ich ihr zum hundertsten Mal entkommen. Mit welcher Macht schlägt sie diesmal nach mir? 

– Es ist Mutter, sage ich so gleichgültig wie möglich und lege den Brief zur Seite.

Ich weiß, dass Linda nicht ewig in diesem Aufzug in der Küche stehen wird und richte wie immer das Frühstück und die Lunchbox für die Kinder her. 

Wenn Mutter mir schreibt, ist das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es ist beinahe ein Wunder. Ich will nicht, dass Linda dabei ist, wenn ich den Brief öffne. Ich will, dass überhaupt niemand dabei ist. 

Yaron kommt verschlafen angetrottet. Er erinnert mich am Morgen immer an Linus von den Peanuts. Linda gibt ihm einen schnellen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange, um dann in ihrem Zimmer zu verschwinden. Dale ist schon über alle Straßen mit seinem Truck. Gabriel lässt wie immer auf sich warten. Aber zum Glück war er gestern Abend länger am Klo. Seine Laune dürfte deshalb berechenbar sein. 

Als Linda aus dem Haus ist, hinterlässt sie uns die Leichtigkeit ihres Parfüms. Die Gewissheit, dass mit diesem Ge¬uch immer noch ihre Verliebtheit einhergeht.

Ich verschütte die Milch und bin mit den Kindern ungeduldiger als sonst. Keine Sekunde geht mir der ungeöffnete Brief aus dem Kopf. Als liege darin ein schweres Urteil oder die Einladung zu einem großen, einmaligen Schritt. Nervös fahre ich die Kinder zu ihren Schulen und überlege, welcher Platz der geeignetste wäre, um mich Mutters Worten zu öffnen. Auf jeden Fall nicht Berhanes Wohnung. Intuitiv nehme ich den Freeway nach Santa Monica und fahre dort an den Strand. In einem Café bestelle ich mir frisch gepressten Orangensaft und versuche, mit dem Schlag der Wellen meinen Atem zu beruhigen. 

Nach einem knappen Jahr schickt Mutter mir einen Brief. Ist er verlorengegangen und jetzt aufgetaucht? Durch irgendein Missgeschick so verspätet bei mir eingetroffen? Unmöglich, denn ich habe in der Zwischenzeit ja zweimal Familie gewechselt, meine Adressen immer bei Toni oder Sigrid am Telefon durchgegeben. Ich lese den Poststempel. Er ist drei Wochen alt. Keine verspätete Antwort auf meinen Brief also. Kein Missgeschick.

Und dann stehen da Worte. Einmalige Worte meiner Mutter. Dass bald Weihnachten sei und vielleicht Zeit, heimzukehren. Dass sie noch immer erstaunt sei über meine schönen Sätze in jenem Brief. Er liege schon seit fast einem Jahr auf ihrem Nachttisch. Sie habe ihn immer wieder gelesen. Wie eine Art Gebet. Mutter schreibt nicht, warum sie erst jetzt schreibt. Es muss ihr schwer gefallen sein, wenn ich ihre Schrift betrachte. Die Mühe, die sich darin verbirgt. Das Ausloten über die Ferne und das Schweigen hinweg. Es folgen Sätze über die Arbeit im Geschäft, das kalte Wetter. Kein Vorwurf. Keine größeren Klagen. Am Ende nur die verhaltene Bitte, ich möchte doch heimkommen. 

Welche Farbe hat die Freiheit? Ist dieses Meer vor meinen Augen blau oder grün? Hat Mutter in Grado dieselbe Farbe gesehen und denselben Wunsch verspürt? Den Wunsch, sich aufzulösen? Auch sie scheint im Schreiben eine andere. Ich spüre die Kälte und Trostlosigkeit der Vorweihnachtszeit im Dorf. Ich sehe das abgedunkelte Zimmer, in dem sie sich von der Arbeit ausruht, dem ewigen Trott. 

Am Strand spielt eine Gruppe junger Leute Beachvolleyball. Ich hätte Lust, mich ihnen anzuschließen, im Hin und Her eines Balles zu vergessen. So wie damals in Marseille beim Pingpong-Spielen mit Arghiris. Stattdessen trinke ich in Zeitlupe mein Glas leer. Lese den Brief noch zweimal. Danach fahre ich zurück nach Isla Vista, wo Berhane mich mit seiner Musik umarmt.